Artificial Intelligence und Deep Learning: Wittgenstein schlägt ­Platon

Viewpoint
Issue
2022/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/cvm.2022.02240
Cardiovasc Med. 2022;25:w02240

Published on 01.09.2022

Die Idee der Dinge

Im siebten Buch der Politeia lässt Platon seinen Lehrer Sokrates das Höhleingleichnis erzählen. Der sagte:
Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, (…). Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt…, dass dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten [1].
Damit vergleicht Platon die sinnlich wahrnehmbare Welt und ihre vergänglichen Dinge mit einer unterirdischen Höhle, in der die Schatten als Abbilder der geistigen Welt der unwandelbaren Idee fungieren.

Vom Genotyp zum Phänotyp

Dieser Idealismus hat mit der modernen Genetik eine Renaissance erlebt: Sind auch wir, ja die ganze Natur nicht ein Abbild unserer Desoxyribonukleinsäure, der DNS? Und gewiss enthält nicht die Sequenz der Nukleotide die Bauanleitung für unsere Organe, unseren Körper, unser Selbst? Liesse sich also mit Kenntnis einer solchen biologischen Bauanleitung jedweder Organismus schaffen? Nun, die Sache erwies sich als verwickelter als das Höhlengleichnis des griechischen Philosophen nahelegt; zur Genetik kam die Epigenetik, die Regulation der Genexpression durch Transkriptionsfaktoren und -suppressoren, durch nicht kodierende, kurze und lange Ribonukleinsäuren (microRNAs und long, non-coding RNAs) und post-transkriptionelle Modifikationen aller Art. Jenseits von Licht und Schattenbildern, mussten wir erkennen, dass unserer Bauplan enorm komplex ist und dass Vorbestimmtes laufend durch Unbestimmtes gewandelt wird. Mit der Idee (also der DNS-Sequenz alleine) lässt sich kein Schattenbild (in der Biologie und Medizin würden wir von «Phänotyp» sprechen) erschaffen.

Artificial Intelligence

Die geschilderte Komplexität übersteigt gewiss unsere geistige Kapazität. Könnte künstliche Intelligenz (engl.: Artificial intelligence (AI), Machine learning (ML)) weiterhelfen? Und gewiss, künstliche Intelligenz hat Beeindruckendes geleistet [2]. Es begann 1996, als Deep Blue, ein von IBM entwickelter Schachcomputer, den damals amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow unter Turnierbedingungen in sechs Partien erstmals schlug. Zwischenzeitlich hat künstliche Intelligenz die Produktion und Steuerung technischer ­Geräte, die Entwicklung von Medikamenten und die Medizin [3], ja beunruhigenderweise auch das Militär erreicht. 
Enorm vielversprechend ist die neue Technologie in der Medizin: Die bildgebende Diagnostik wurde dank ausgefeilter Algorhythmen und riesiger Datenbanken neu gestaltet; bald wird es zur Beurteilung von Computertomogrammen (CT), Ultraschall und MRI nur noch wenige Radiologen brauchen. AI/ML ist schneller, hat alle bisher bekannten Befunde im Kopf, ist mindestens so gut wie professionelle Imager [4] und sieht nicht ­selten mehr als das menschliche Auge. So haben Algorhythmen, die die fat attenuation in der Adventia, Kalzifizierungen und die Struktur der Koronararterien in CTs berücksichtigen, prognostisch eine Genauigkeit erreicht, die keinem Mediziner gelingt [5]. Das EKG, bisher unumstrittende Domäne der Kardiologen, erfährt dank AI/ML eine bisher undenkbare Aussagekraft: Nicht nur klärt der Algorhythmus den Arzt aufgrund weniger Herzschläge in Sekundenschnelle über die linksventrikuläre Pumpfunktion auf [6], er hält auch fest, ob der Patient vorgängig eine Episode eines Vorhofflimmerns durchgemacht hat [7]. Selbst eine Covid-19 Infektion lässt sich im EKG mit künstlicher Intelligenz ausschliessen [8].

Wie lernt künstliche Intelligenz?

Lernt künstliche Intelligenz wie Platon denkt? Wenn der Algorhythmus lernt, ein Melanom von einem Naevus zu unterscheiden, geht er dann von der Idee eines Melanoms aus und erkennt damit alle Ausprägungen? Nein gewiss nicht; vielmehr lernt er, wie nach Ludwig Wittgenstein, eine Sprache. Wie erlernen wir als Kinder den Sinn des Wortes «Stuhl»? Gewiss nicht dadurch, dass wir uns über die Idee des Stuhls den Kopf zerbrechen. Wir lernen, wie das Wort im Alltag verwendet wird, also ein Gegenstand, mit vier Beinen auf dem sich sitzen lässt. Doch schon erinnern wir uns an Stühle mit drei Beinen, am Melchstuhl findet sich nur eines. Colanis Kreation, auf der sich fraglos sitzen lässt, hat weder Lehnen noch vier Beine, dennoch ist es ein Stuhl. Umgekehrt: Ein Sofa ist kein Stuhl, eine Sitzbank noch weniger, obgleich wir uns auch darauf bequem machen können. Es ist also eine Gruppe von Eigenschaften und seine Verwendung, die den Stuhl erkennbar macht, doch sind die Merkmale nicht stets identisch – dennoch werden wir in unserem Urteil zunehmend sicherer. Auch der Computer lernt nicht ausgehend von einer Definition des Stuhls. Wittgensteins Sprachspiele [9] (der Versuch, vom Hang zu Allgemeingültigem durch Beobachtung des alltäglichen Gebrauchs des Besonderen wegzukommen und zu einem neuen Verständnis zu gelangen) gehen von Familienähnlichkeiten aus und nicht von einem tieferen Wissen über das Wesen oder die Idee des Stuhls an sich. 
Witggenstein schlägt Platon in der künstlichen Intelligenz: Der Algorhythmus lernt, das ist ein Melanom, das ist ein Naevus und je mehr er davon sieht, desto sicherer wird er in seinem Urteil. Ebenso lernt er vom Vektorkardiogramm, dies ist ein EKG eines Patienten mit einer eingeschränkten linksventrikulären Auswurffraktion, jenes EKG ist von einer Person mit normaler Pumpfunktion, und so weiter und so weiter. Deep Learning wird besser und besser, je mehr sich die Datenmenge erweitert. So haben die Mayo-Forscher ihrem Algorhythmus 650 000 EKGs zugeführt.

Wie prüft man künstliche Intelligenz

Ein Dilemma bleibt: Wir wissen nicht, was der Computer genau macht – Deep Learning ist eine Black Box. Wir füttern den Algorhythmus mit Daten und erhalten ein Resultat. Zwischen Input und Output jedoch herrscht Dunkelheit. Wie können wir uns so sicher sein, dass der Output auch stimmt? Die Frage ist nicht unwichtig; schliesslich kann Ungenaues, ja Falsches enormen Schaden verursachen. Auch Herausgeber von wissenschaftlichen Zeitschriften, wie der Schreibende, waren mit dieser Frage konfrontiert, als sich die Einreichungen solcher Studien häuften: Wie sicher können wir sein, dass das Publizierte auch stimmt, die Medizin verbessert und Patienten nicht schadet?
Die Lösung lautet: Es braucht eine Training and Derivation Cohort und eine Überprüfung in einer unabhängigen Verification Cohort. Und natürlich: Die Datenmenge sollte so gross wie möglich sein – tausende, besser aber zehntausende und hundertausende von Datenpunkten. 
Dann jedoch sind Algorhythmen nicht auf alle Ewigkeit gültig. Die Patienten ändern sich: Plötzlich stehen viele Patienten unter Aspirin und Statinen, wenn sie einen Herzinfarkt erleiden [10], oder zunehmend Frauen sind betroffen und das GRACE Score ist plötzlich nicht mehr so genau wie es sein sollte [11]. Ein Algorhythmus muss also, wie die Mediziner auch, ständig lernen, sich anpassen und zeitgemäss bleiben

Ausblick

Artificial Intelligence und Machine Learning wird die Medizin grundlegend verändern: Wir werden in der Diagnostik Befunde mit ungewohnter Schnelligkeit und Genauigkeit erhalten, im Notfall werden uns Algorhythmen umgehend die Wahrscheinlichkeit verschiedenster Diagnosen liefern, in der Ambulanz wird die Prognose jedes Patienten noch während der Visite aus allen verfügbaren Daten errechnet werden, das EKG wird uns sagen, ob ein Patient mit einer transient ischaemischen Attacke vorgängig Vorhofflimmern hatte und einer Antikoagulation bedarf, bei Eingriffen helfen uns Algorhythmen durch Datenintegration von Angiographie und Optical Coherence Tomography, die Stentgrösse und Länge optimal auf das zu behandelnde Koronarsegment anzupassen und vieles weitere mehr. Die Medizin, so die berechtigte Hoffnung, wird effizienter und besser und der Arzt könnte, wie Erik ­Topol nahelegt, damit mehr Zeit für ein Gespräch mit seinem Patienten haben. Kann Technologie die Medizin auch menschlicher machen? Wir werden sehen, doch undenkbar ist es nicht.
Prof. Thomas F. Lüscher, MD, FRCP, FESC
Chairman, Center for ­Molecular Cardiology
Schlieren Campus
Wagistrasse 12
CH-8952 Schlieren
Cardio[at]tomluescher.ch
1 : Politiea. 7. Buch, 106
2. . The age of AI and our human future. John Murray Publishers, London, UK, 2022
3 : Deep Medicine – How artificial intelligence can make healthcare human again. 2019
4.  A comparison of deep learning performance against health-care professionals in detecting diseases from medical imaging: a systematic review and meta-analysis. Lancet Digit Health. 2019 Oct;1(6):e271–97. http://dx.doi.org/10.1016/S2589-7500(19)30123-2 PubMed
5.  A novel machine learning-derived radiotranscriptomic signature of perivascular fat improves cardiac risk prediction using coronary CT angiography. Eur Heart J. 2019 Nov;40(43):3529–43. http://dx.doi.org/10.1093/eurheartj/ehz592 PubMed
6.  Screening for cardiac contractile dysfunction using an artificial intelligence-enabled electrocardiogram. Nat Med. 2019 Jan;25(1):70–4. http://dx.doi.org/10.1038/s41591-018-0240-2 PubMed
7.  An artificial intelligence-enabled ECG algorithm for the identification of patients with atrial fibrillation during sinus rhythm: a retrospective analysis of outcome prediction. Lancet. 2019 Sep;394(10201):861–7. http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(19)31721-0 PubMed
8. . Rapid Exclusion of COVID Infection With the Artificial Intelligence Electrocardiogram. Mayo Clin Proc. 2021 Aug;96(8):2081–94. http://dx.doi.org/10.1016/j.mayocp.2021.05.027 PubMed
9. . Philospophische Untersuchungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2003.
10.  Pre-existing treatment with aspirin or statins influences clinical presentation, infarct size and inflammation in patients with de novo acute coronary syndromes. Int J Cardiol. 2019 Jan;275:171–8. http://dx.doi.org/10.1016/j.ijcard.2018.10.050 PubMed Edifix has not found an issue number in the journal reference. Please check the volume/issue information. (Ref. 10 "Weidmann, Obeid, Mach, Shahin, Yousif, Denegri, et al., 2019")
11 : Sex-specific evaluation and redevelopment of the GRACE score in non-ST-segment elevation acute coronary syndromes: a multinational analysis of contemporary populations of four European countries with external cohort validation. Lancet, August 29, 2022 online.