Cardiovascular Roundtable, CARTA 2016: Gesundheitswesen zwischen Regulierung und freiem Markt

News
Issue
2017/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/cvm.2017.00488
Cardiovascular Medicine. 2017;20(06):164-165

Published on 21.06.2017

Cardiovascular Roundtable, CARTA 2016: Gesundheitswesen zwischen 
Regulierung und freiem Markt

Der «Cardiovascular Roundtable» (CARTA) am UniversitätsSpital Zürich will den Dialog zwischen den verschiedenen Partnern im Gesundheitswesen, das gegenseitige Verständnis und die konstruktive Zusammenarbeit fördern. Zu den Teilnehmenden zählen jeweils Vertreter der Ärzteschaft, der Pharma- und Medizinaltechnikindustrie sowie der Gesundheits- und Bildungspolitik. CARTA 2016 wurde im Oktober unter der Leitung von Prof. Thomas F. Lüscher und der Moderation von FDP Nationalrätin Doris Fiala und Alt-Ständerat Prof. Felix Gutzwiller bereits zum 12. Mal durchgeführt. Thematisch drehte sich der Anlass, in wenigen Worten zusammengefasst, um weniger Ideologie und Kommerzialisierung und mehr (monistische) Veränderungen im Gesundheitswesen.

Fehlanreize führen zu zusätzlichen Kosten

CVP-Regierungsrat Dr. Lukas Engelberger, Vorsteher des Gesundheitsdepartements des Kantons Basel-Stadt, präsentierte Überlegungen zum Finanzierungssystem des Gesundheitswesens aus kantonaler Sicht. Durch das Versicherungsobligatorium und den Vertragszwang im KVG bestünden starke Anreize für erhöhten Leistungskonsum. Demgegenüber hätten die Kantone nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten der Steuerung, und für die Versicherten sei es ebenfalls nicht leicht, wirksam Eigenverantwortung wahrzunehmen. Als Problem nannte Engelberger stationäre Leistungen, die auch ambulant und somit kostengünstiger erbracht werden könnten. Engelberger plädierte daher für den Monismus, also die einheitliche Finanzierung von stationären und ambulanten Leistungen. Zudem regte er die Stärkung der Grundversorgung an, denn darin liege ein wichtiger Schlüssel sowohl zur Förderung der Patientenkompetenz als auch für die Steuerung der Leistungserbringung.
Abbildung 1: Lukas Engelberger (links) und Thomas Lüscher diskutieren die Überversorgung im Gesundheitswesen.

Weniger Ideologie, mehr 
Pragmatismus

Pascal Strupler, Direktor des Bundesamtes für Gesundheit, machte sich dafür stark, dass auf dem politischen Parkett weniger ideologisch debattiert werden solle nach der immer gleichen Frage «Mehr Markt oder mehr Staat». Denn wenn jemand erkranke oder verunfalle, zähle für ihn, dass er schnell und in bester Qualität behandelt werde, egal, ob dies dank Wettbewerb oder staatlicher Steuerung gut laufe. Für Strupler stehen der Schutz und die Förderung der öffentlichen Gesundheit im Vordergrund. «So ganz daneben liegen wir wohl nicht damit, was Umfragen zur Zufriedenheit über das Gesundheitswesen immer wieder zeigen», sagte er, und für ihn 
ist klar: Es braucht Markt und Staat. Denn 
in einem Gesundheitswesen, das nur auf 
den Wettbewerb setzen würde, würde alles nicht mehr gemacht, was sich betriebswirtschaftlich nicht rechnen würde. So gäbe es beispielsweise keine Prävention und keine Pandemievorsorge mehr, Krankenkassen würden nur noch junge Gesunde versichern und die Medikamentenpreise explodieren ohne gesetzlich vorgegebene solidarische Versorgung. Andererseits stünde bei einem staatlich kontrollierten Gesundheitswesen die Einheitskasse im Vordergrund, was ebenfalls nicht wünschenswert ist. Um das «sowohl als auch» und ein finanzierbares Gesundheitswesen voranzubringen, engagiert sich Strupler für mehr Transparenz bei der Behandlungsqualität, eine Stärkung der Prävention, die konsequentere Senkung der Medikamentenpreise, die vermehrte Prüfung der Wirtschaftlichkeit und die Verbesserung der Qualität, wozu das BAG derzeit für mögliche Lösungsansätze unter anderem das deutsche und holländische Gesundheitssystem analysiert.
Abbildung 2: Pascal Strupler macht sich für ein ausgewogenes Gesundheitswesen mit Markt und Staat stark.

Exzellenz durch Kooperation

Prof. Gregor Zünd, Vorsitzender der Spitaldirektion des UniversitätsSpitals Zürich, prognostizierte, dass sich die universitäre Medizin in den kommenden Jahren stark verändern werde und mit der Verkürzung der Aufent-haltsdauer bei Spitalbehandlungen grosses Sparpotenzial aufweise. Zudem solle der Fokus nicht primär auf einem möglichst langen Leben liegen, sondern darauf, so lange wie möglich eine hohe Lebensqualität zu bewahren. Zünd präsentierte vier Thesen zur universitären Medizin der Zukunft:
– «Digitalisierung»: Digitalisierung und Datenanalytik werden zu einer zentralen Ressource, welche gezieltere und bessere Diagnosen ermöglicht.
– «Medizinische Kooperationen»: Subspezialitäten werden krankheitsbezogen und mit flachen Hierarchien zusammenarbeiten.
– «Umgestaltung Infrastruktur»: Die räumliche Nähe von Forschung, Lehre, Diagnostik und Therapie zu einem medizinischen Thema fördert Innovation, Translation und Qualität der Medizin. Dazu wird auch gehören, stationäre und ambulante Bereiche mehr voneinander zu trennen.
Abbildung 3: Austausch über die Spitalstrukturen von morgen zwischen Gregor Zünd und 
Doris Fiala.
– «Optimierte Versorgungsstrukturen»: Die patientenorientierte Medizin erfordert eine Versorgung, welche die Patienten dort erreicht, wo sie leben und arbeiten, z.B. am Bahnhof oder in Flughafennähe.

Finanzierung kostenintensiver ­Medikamente: Yes, we can!

Prof. Beat Thürlimann, Chefarzt und Leiter des Brustzentrums im Kantonsspital St. Gallen, widmete sich der Thematik «Können wir uns kostenintensive Medikamente noch leisten und wer soll sie bezahlen?». Diese Frage lässt sich je nach Standpunkt unterschiedlich beantworten. Beispiel Brustkrebs: Die wirksamste chirurgische Behandlung für Patientinnen wäre die Brustentfernung, aber sie ist nicht die angemessenste Behandlung, weil sie keine gute Lebensqualität bringt. ­Ärzte wünschten sich für ihre Patienten den gerechten Zugang zu angemessenen Behandlungen. Die Onkologie hat hierbei bei der Preisentwicklung eine besondere Verantwortung, weil die dort eingesetzten Medikamente als Preistreiber gelten. Es bräuchte aber nicht ­immer die neueste und teuerste Behandlung. Bei der Kostendiskussion dürfe man aber auch die Verhältnismässigkeit nicht aus den Augen verlieren: Krebsmedikamente machen lediglich ein Prozent der gesamten Gesundheitskosten aus. Das Sparpotenzial ist also ­limitiert verglichen mit anderen Sparmöglichkeiten im Gesundheitswesen.

Selbstverantwortung der Patienten stärken

Immer wieder wird propagiert, dass auch der Patient seinen Anteil zu einem finanzierbaren Gesundheitswesen beitragen solle. Felix Schneuwly, Krankenversicherungsexperte beim Internetvergleichsdienst Comparis, nannte die wichtigsten Kriterien, welche aus seiner Sicht die Selbstverantwortung von Patienten stärken:
– Die Mindestfranchise bei der Krankenkassenprämie soll dem Kostenanstieg angepasst werden.
– Der Spielraum für die Prämiendifferenzierung zwischen alternativen Versicherungs­modellen und der Standard-Grundversicherung soll erhöht werden.
– Versicherte sollen die Option erhalten, auf Pflichtleistungen verzichten zu können, zum Beispiel auf die Komplementärmedizin.
– Schliesslich braucht es mehr Transparenz bei den Leistungserbringern, damit Patienten wirklich von der freien Arzt- und Spitalwahl profitieren können. Analog der Qualitätsindikatoren für stationäre Leistungen braucht es gemäss KVG auch solche für ambulante Leistungen.

«Versöhnung von Medizin und ­Ökonomie»

Als weitere mögliche Zauberformel für das Schweizer Gesundheitswesen wurde das Konzept der Value Based Healthcare besprochen, das eine stärkere Werteorientierung anstossen will. Gesundheitsökonom Dr. Heinz Locher umschrieb den Begriff als eine Art «Versöhnung zwischen Medizin und Ökonomie». Value Based Healthcare basiere auf der Kritik an der herrschenden Versorgungskultur, welche zu fragmentiert und bevölkerungsfern sei und sich durch erhebliche Effizienzdefizite charakterisiere. Bei Value Based Healthcare gehe es um die Orientierung an Outcome und Kosten. Niemand verhalte sich bewusst unökonomisch, aber es gelte zu unterscheiden zwischen Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Medizin. Auch Locher plädierte dafür, die Einführung des Monismus zeitnah zu thematisieren.
Abbildung 4: Felix Gutzwiller moderiert die 
engagiert geführte Diskussion.
Abbildung 5: Verena Nold (links) und Ruth 
Humbel nehmen Stellung zur Kostenexplosion.

Austausch in der Expertenrunde

In der anschliessenden prominent besetzten Expertenrunde wurden unter der Leitung von Karl Ehrenbaum die einzelnen Themen zwischen den Partnern im Gesundheitswesen intensiv diskutiert. Dr. med. Josef E. Brandenberg, Facharzt für Orthopädische Chirurgie, nahm zu Qualitätsanforderungen bei chirurgischen Eingriffen im Zusammenhang mit minimalen Fallzahlen Stellung. Zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen und bei den Krankenkassenprämien äusserten sich CVP-Nationalrätin Ruth Humbel und die Direktorin von Santé Suisse, Verena Nold, mit entsprechenden Voten für Sparmassnahmen. Dr. Jacques-Henri Weidmann von der Firma Sanofi hob die Bedeutung medizinischer Innovationen der forschenden Industrie am Beispiel der PCSK-9 Hemmer hervor, die ihren Preis haben.

ETH als neuer Partner im Gesundheits­wesen

Im abschliessenden Gastreferat warf Prof. Lino Guzzella, Präsident der ETH Zürich, ein Schlaglicht auf die herausragende Bedeutung der ETH Zürich und den strategischen Schwerpunkt Gesundheitswissenschaften. Dazu gehören die Entwicklung von Robotern für die Rehabilitation, neue Möglichkeiten in der MRI Technologie und das Projekt «Zurich Heart» mit der Entwicklung einer Herzpumpe. Mit grossem Interesse wird der Pilotversuch der ETH verfolgt, ein Medizinstudium mit Bachelor-Abschluss zu etablieren, das ab Herbst 2017 für 100 Studierende angeboten wird mit den Schwerpunkten Drug ­Discovery, Personalisierte Medizin, Medizintechnik, Medizinische Bildgebung, Medizininformatik sowie Public Health.
Dr. Ruth Amstein
Zurich Heart House
Stiftung für Herz- und Kreislaufforschung
Moussonstrasse 4
CH-8091 Zürich
ruth.amstein[at]usz.ch